Die „Offene-Tür-Mission“

Im Jahre 1894 begann ein junger Mann namens Gorham Tufts ein christliches Hilfswerk im Armenviertel von Chicago. Mit Liebe und Begeisterung führte er seinen Auftrag aus. Vielen Männern und Frauen, die sich bereits außerhalb der menschlichen Gesellschaft befanden und zerschlagen am Boden lagen, konnte er eine Hilfe sein.

Eines Tages wurde ich von einer inneren Bürde sehr bedrückt. Als ich mich betend zum Herrn wandte, nahm die Bürde zu. Während des Gebets erhielt ich die tiefe Überzeugung, dass jenes Missionswerk in Gefahr war und meiner Hilfe bedurfte. Ich sagte zu meiner Frau, wenn sie mich begleiten wolle, würden wir mit dem nächsten Zug nach Chicago fahren. Ich hätte die feste Gewissheit, dass sich das Missionswerk in jener Stadt in Schwierigkeit befände, obwohl ich seit einiger Zeit keine Nachricht darüber erhalten hatte.

Kurz nach unserer Ankunft am nächsten Morgen erfuhren wir, dass das Missionsgebäude dem Richter Thomas gehörte, der ein rücksichtsloser Geschäftsmann war. Früher hatte das Haus eine Frau gemietet, die mit der Mission in Verbindung war. Der Richter war nun bereit, dieses Haus wieder ein Jahr lang an Bruder Tufts unter der Bedingung zu verpachten, dass jene Frau den Vertrag mitunterzeichnete. Bruder Tufts war aber mit der Arbeit dieser Frau sehr unzufrieden und weigerte sich aus diesem Grunde, einen Vertrag zusammen mit ihr zu unterschreiben. Der Mietvertrag war bereits zur Unterzeichnung fertig und die Angelegenheit musste bis zum Mittag des nächsten Tages geklärt sein. Bruder Tufts und seine Mitarbeiter hatten sich bereits entschlossen, das Gebäude aufzugeben und das Missionswerk in einem Zelt zu betreiben.

Nachdem ich einiges über diese Angelegenheit mit ihm gesprochen hatte, verstand ich, warum ich eine solche Bürde auf meiner Seele hatte. Als es dann Mittag war, beabsichtigte Bruder Tufts dem Eigentümer mitzuteilen, dass sie auf die Übernahme des Gebäudes verzichteten. Ich regte nun an, die Angelegenheit doch erst einmal im Gebet dem Herrn zu bringen. Nachdem wir gebetet hatten, riet ich ihm, trotz der Weigerung des Richters, das Gebäude ohne die Mitunterzeichnung der Frau zu vermieten, seine Arbeit in diesem Gebäude fortzusetzen.

Als wir dann bald darauf dem Richter gegenüberstanden, versuchte er, Bruder Tufts zu überreden, sein Werk wie bisher fortzusetzen, aber all sein Bemühen war vergeblich. Nun hatte Br. Tufts diesem Mann schon früher von mir erzählt, und er benutzte nun die Gelegenheit, um mich über Tufts auszufragen. Ich sagte ihm dann, dass ich von Br. Tufts eins genau wüsste, nämlich dass er großen Mangel an Geldmitteln hatte. Dann wünschte er zu wissen, wie groß mein Vertrauen in ihn sei. „Ich würde ihm getrost mein ganzes Bargeld überlassen“, entgegnete ich, „damit er für mich einiges einkaufen könnte“. Ich wüsste genau, dass mein Bruder trotz seiner sehr bedrängten Lage nicht einen Cent für sich behalten würde. Da sagte der Richter zu mir: „Wenn Sie mit Ihrem Namen mitunterzeichnen wollen, soll er das Gebäude für eine jährliche Miete von 1.500 Dollar erhalten.“ Ich ließ mir den Vertrag geben und betrachtete ihn mehr betend als lesend, weil ich doch den Willen Gottes in dieser Angelegenheit erfahren wollte. Dann ließ ich mir Tinte und Feder geben, setzte meinen Namen unter das Schriftstück und alles war in Ordnung.

Das Missionswerk wurde im Verlauf des Jahres vielen Menschen ein Segen und viele wurden von ihren Sünden errettet. Am Schluss des Jahres wurde dann der Vertrag ohne meine Unterschrift verlängert.

Als ich im Jahre 1896 eine Reise durch die Südstaaten unternahm, bat mich Br. Tufts, doch noch in Chicago Halt zu machen, um ihn zu besuchen. Als wir dann zusammen waren, zeigte er mir ein großes, sechsstöckiges Gebäude, das am Rande des Armenviertels stand. Dies Gebäude wünschte er für seine Arbeit zu erwerben, weil es dafür wie geschaffen war. Eine Medizinervereinigung hatte vor einiger Zeit dieses schöne Gebäude errichten lassen, das nun aber schon eine Zeitlang leer stand. Die bisherige Jahresmiete betrug 4.500 Dollar und Br. Tufts könnte es für eine monatliche Miete von 200 Dollar mieten. Der jetzige Eigentümer war ebenfalls ein Richter und ein Freund von Herrn Thomas. Er wusste auch, dass ich damals den Vertrag mitunterzeichnet hatte.

Nachdem ich das Gebäude besichtigt hatte und sah, dass es für die Missionsarbeit geeignet war, setzte ich meine Reise durch die Südstaaten fort. Bei meiner Ankunft in Augusta, GA, erhielt ich durch die Post den Vertrag zugestellt, nachdem das Gebäude ein Jahr an Br. Tufts vermietet würde, wenn ich mitunterzeichnete. Obwohl der Eigentümer mich noch nie gesehen hatte, war er dennoch mit meiner Unterschrift zufrieden, weil auch der Richter Thomas damals meine Mitunterzeichnung angenommen hatte.

Nach Einsicht in die Papiere betete ich gemeinsam mit Bruder Lundy zum Herrn und wusste dann, dass die Unterzeichnung nach seinem Willen war. Bald tat sich eine Tür für solche Menschen auf, für die alle anderen Türen verschlossen waren. Die „Offene-Tür-Mission“ hatte angefangen, in jener Riesenstadt zu wirken. Menschen, die durch Arbeitslosigkeit oder andere Umstände verarmt und ohne Obdach waren, fanden in diesem Hause eine Zuflucht. Wenn ich von Zeit zu Zeit diese Stätte der Menschenliebe aufsuchte, war mein Herz jedesmal freudig bewegt, wenn ich sah, wie Hunderte der Ärmsten besonders während der kalten Wintermonate Nahrung und Obdach fanden.

Das erste Stockwerk wurde als Andachtssaal und Speiseraum genutzt. Eine heiße Suppe, Brot und andere Nahrungsmittel wurden hier den Armen gereicht. Diese Speisen wurden meistens frei gegeben und stammten aus Resten und freien Gaben der Hotels und Gasthäuser.

Wenn man die Räume im zweiten und dritten Stockwerk besichtigte, die ungefähr 25-30 Fuß (8-9 m) lang und 125 Fuß (38 m) breit waren, sah man schlafende Menschen, die dichtgedrängt in vier langen Reihen, mit nur einer Zeitung als Unterlage, auf dem Boden lagen. Die große Arbeitslosigkeit hatte damals Tausende von Arbeitern und Angestellten ruiniert. Buchhalter, Beamte und Geschäftsleute, die ihren letzten Heller ausgegeben hatten, irrten durch die Straßen auf der Suche nach Arbeit. Viele unter ihnen waren gut gekleidet. Sie erhielten ein Bett in den oberen Stockwerken und wurden versorgt, bis sie Stellung gefunden hatten. Jeder unserer Schützlinge wurde angeregt, an den Andachten teilzunehmen, die regelmäßig vor dem Frühstück und dem Abendessen gehalten wurden. Mancher wurde auf diese Weise zu Christus geführt und so aus Verderben und Schande gerettet.

Wenige Wochen nach unserer Übernahme des Gebäudes wurde Bruder Tufts nach Indien gerufen, um eine Untersuchung des Hilfswerkes zur Linderung der Hungersnot in jenem Land durchzuführen und eine Spende der Gemeinde von einigen Tausend Dollar zu überbringen. Er reiste ab, noch ehe die Miete für den nächsten Monat fällig war, und war vier Monate abwesend.

Eines Tages erhielt ich einen Brief des Hausbesitzers, in dem er mich aufforderte, 800 Dollar für fällige Miete zu zahlen, da der Pächter die Schuld nicht begleiche und ich doch mitunterzeichnet hätte. Ich schrieb ihm dann, dass ich meinen Hausrat verkaufen wolle und mit dem Erlös so bald wie möglich bezahlen würde.

Bruder Palmer und zwei andere Prediger erhielten Kenntnis von meiner Lage, gerieten darüber in große Sorge und meinten, ich hätte mich lieber nicht so binden sollen. Ich sagte ihnen, dass ich vor der Unterzeichnung Gott gefragt hätte und dass die Unterzeichnung des Vertrages Gottes Führung gewesen sei. Und wenn ich sogar meinen Hausrat verkaufen müsste, wäre ich der Führung Gottes trotzdem gewiss, weil ich wüsste, dass die Unterzeichnung nach seinem Willen war. Ich riet ihnen dann freundlichst, sich doch nicht um mich zu sorgen. Ich hätte über diese Dinge noch keinen Schlaf eingebüßt und der Herr sei doch unser Versorger.

Bald danach kehrte Br. Tufts von Indien zurück, besuchte den Hauseigentümer und sorgte für eine befriedigende Lösung unserer Schwierigkeiten. Ehe das Jahr verging, war die Schuld getilgt, ohne dass finanzielle Hilfe von meiner Seite notwendig war. Während einer Versammlung in der Missionskapelle kam ein Mann nach vorne und schenkte sein Herz Gott. Nicht lange danach bat mich dieser Mann in einem Brief, nach Chicago zu kommen. Er fühlte vom Herrn den Auftrag, 400 Dollar für das Indische Hilfswerk zu geben und weitere 250 Dollar zur Begleichung der Schuld einiger Prediger, die Bücher aus dem Verlagshaus erhalten hatten und nicht imstande waren, diese zu bezahlen. Weitere 2.200 Dollar überwies er dem Verlagswerk, befreite uns dadurch von unseren Schulden und setzte uns in den Stand, einige notwendige Maschinen zu beschaffen.

Wenn ich auch an all diesen Mitteln keinen persönlichen Anteil hatte, fühlte ich mich für all die Schwierigkeiten sehr gut belohnt, die mir durch die Mitunterzeichnung jenes Vertrages erwachsen waren.