Geister auf dem Friedhof

In meiner Kindheit saßen die Leute an den langen Winterabenden am offenen Kamin, wo den Kindern dann manche Gei­stergeschichte erzählt wurde. Bei dem Anhören solcher Spukgeschichten wurde unsere Phantasie derart angeregt, dass wir abends meinten, in dunklen Ecken des Zimmers, in der Dachkammer und auch sonstwo im Haus oder im Freien allerlei Gei­stergestalten zu sehen. Doch hatte ich trotz aller Einbildung und Furcht nie das Glück, einen wirklichen Geist zu sehen. Als ich älter wurde, glaubte ich an solchen Spuk nicht mehr.

Als ich dann ein Mann von 40 Jahren war, kam ich einst aus der Stadt und eilte bei beginnender Dunkelheit auf einsamer Straße heimwärts. Von dieser Straße führte seitwärts ein wenigbenutzter, verlassener Pfad über einen Friedhof. Die Umzäunung war brüchig und zum größten Teil verfallen. Gras und Kraut wucherte über vergessene Gräber und umgestürzte, schrägstehende oder liegende Grabsteine. Auf der Spitze des Hügels standen noch einige verwitterte Grabmäler.

Da ich möglichst schnell mein Ziel erreichen wollte, entschloss ich mich, als ich diesen Pfad erreichte, den kürzeren Weg über den Friedhof zu nehmen. Auf halbem Weg zur Spitze des Hügels, dort, wo ringsum die Gräber lagen, hörte ich plötzlich in einer Entfernung von kaum 10 Meter ein äußerst seltsames und unnatürliches Geräusch. Ich erschrak etwas über dieses außergewöhnliche Ereignis hier auf dem verlassenen Friedhof. Ich blieb stehen, lauschte und hörte nach einigen Augenblicken den gleichen Ton, der wie der kreischende Schrei einer Frau klang, dann aber wieder mehr klagend und seufzend, als stoße ihn jemand in großer Not aus. War es wirklich eine Frau in Not oder der Geist eines Verstorbenen aus der anderen Welt?

Allerlei Gedanken jagten durch meinen Sinn, als ich hier so allein in der Dunkelheit stand. Rannte ich jetzt fort, dann bliebe dies Ereignis für immer ein Geheimnis für mich. Ich entschloss mich deshalb, die Ursache dieses Klagens zu erforschen. War jemand in Not, so war schnelle Hilfe nötig, und war es irgend ein geistiges Wesen, dann musste auch dieses Geheimnis gelüftet werden.

Ich ging weiter und als ich mich bis auf wenige Schritte dem geheimnisvollen Ort genähert hatte, vernahm ich denselben kreischenden Ton ganz in meiner Nähe. Es schien, als käme dieses Klagen hinter einem Grabstein her, der auf der Spitze des Hügels dicht am Wege stand. Doch als ich die Stelle erreichte, war nichts zu sehen. Aber bald hörte ich wieder dasselbe Geräusch, diesmal dicht zu meinen Füßen am Grab, an dem jener Grabstein stand.

Jetzt fand ich des Rätsels Lösung. In ungefähr 400 Meter Entfernung war ein weiterer Hügel, auf dem sich eine Gruppe aufbrechender Jäger mit ihren Hunden befand. Nicht eine Frau oder ein Geist gab diese Töne von sich, sondern die Hunde waren es, die in die Nacht hineinheulten und winselten. Der Schall wurde von der gegenüberliegenden Bergseite zurückgeworfen und traf gerade jene Stelle hinter dem Grabstein, woher das Klagen zu kommen schien.