Das Schicksal eines Einbrechers

Mehr als 30 Jahre sind vergangen, seitdem ich zum ersten Mal den Mann sah, von dem ich nun erzählen will. Er war damals ein freundlicher, klug dreinschauender Junge von 14 Jahren. Seine verwitwete Mutter hatte ihn schon von frühester Kindheit an beten gelehrt und auf Gott hingewiesen.

Im Alter von 16 Jahren verließ er seine Heimat und geriet in schlechte Gesellschaft. Wenige Monate nach seinem Abschied sandte er seiner Mutter eine gewisse Geldsumme und schrieb, dass er seinen Minenanteil an einer Goldgrube verkauft hätte und ihr wegen seiner Beteiligung an einer Forschungsexpedition längere Zeit nicht schreiben könne.

Nachdem Monate vergangen waren und die Mutter nichts von ihrem Sohn gehört hatte, auch nicht wusste, wo er sich aufhielt, bat sie mich, nach ihm zu forschen. Nach einigem Überlegen war ich bald überzeugt, dass der junge Mann durch schlechte Gesellschaft auf die Verbrecherbahn geraten war und das gesandte Geld ohne Zweifel gestohlen hatte. Wahrscheinlich steckte er jetzt in irgendeinem Gefängnis. Bald hatten meine Vermittler ihn im Staatsgefängnis in Bismark, N. D., ausfindig gemacht, wo er unter einem falschen Namen eine zweijährige Strafe abbüßte.

Bald stand ich mit dem jungen Mann in Briefkontakt. Dies hatte zur Folge, dass er den Entschluss fasste, ein neues Leben zu beginnen und ein wirklicher Mann zu werden. Wenige Monate später hatte er seine Strafe abgebüßt. Mit neuem Mut und dem festen Vorsatz, ein neues Leben zu beginnen, verließ er das Gefängnis. Doch, o weh, draußen empfing ihn ein Polizeibeamter mit einem neuen Haftbefehl.

Er wurde sofort in Haft genommen und wanderte für ein weiteres Jahr ins Gefängnis. All seine Entschlüsse und sein Mut zerfielen und gebrochen an Leib und Seele kehrte er in seine Zelle zurück. Er weigerte sich zu arbeiten, setzte sich dadurch schweren Extrastrafen aus und war bald eine körperliche und geistige Ruine.

Als das Jahr um war, verließ er den Kerker. Jedoch am Tor wurde er wiederum von einem Polizisten in Empfang genommen. Er musste nochmals kehrtmachen, um eine neue Strafe zu verbüßen. Doch nach 4 Monaten war dieser arme Mensch nicht mehr verhandlungsfähig. Endlich wurde er mit der Weisung entlassen, dass seine Mutter für ihn  und auch für seine Ausreise aus diesem Staat sorgen solle.

Auf der Heimreise brachte die schwergeprüfte Mutter ihren Sohn in unser Haus und blieb bei uns über Nacht. Doch dieser Arme war geistig so zerrüttet, dass er sich weigerte, mit seiner Mutter in einem Zimmer zu schlafen. Hätten wir ihn aber allein gelassen, dann wäre er davongelaufen. Darum schlief ich jene Nacht mit ihm in einem Bett. Nie zuvor hatte ich mein Bett mit einem halb Irren geteilt.

Ehe sie am nächsten Morgen zur Weiterreise aufbrachen, schenkte ich dem jungen Mann einen Mantel, ein Paar Handschuhe und ein Halstuch. Doch ich erfuhr, dass er zu Hause nur wenige Stunden geblieben war. So schnell wie möglich war er wieder entwischt. Mantel, Handschuhe und Halstuch hatte er fortgeworfen und blieb für Jahre verschollen.

Zwei Jahre vergingen, als er auf eine mir unbekannte Weise erfuhr, dass ich nach Chicago käme. Ich war damals mit meiner Frau, unserem fünf Jahre alten Töchterchen und einem anderen Bruder auf der Reise nach dem Staat Washington, um dort an verschiedenen Lagerversammlungen teilzunehmen. Mit uns fuhr noch eine Familie, die aber ein anderes Reiseziel hatte. In Chicago mussten wir umsteigen.

Als der Zug im Bahnhof jener Stadt einlief, bat ich den mitfahrenden Bruder, jener Familie mit ihren Kindern beim Umsteigen behilflich zu sein, während ich für unser Gepäck sorgte. Ich war gerade mit unseren Koffern beschäftigt, als ein Fremder auf mich zu trat und fragte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Ein schneller Blick belehrte mich, dass ich ihm keinen Koffer anvertrauen durfte und dankend lehnte ich die angebotene Hilfe ab. Doch schon hatte er eine Tasche ergriffen. Noch einmal schaute ich den Fremden an und erkannte in ihm meinen damaligen Bettgenossen. Nun begrüßte ich ihn und bat, zwei meiner Taschen zu tragen. Auf halbem Weg zum Stationsgebäude zerriss plötzlich ein Koffergriff. Schnell holte er aus seiner Tasche einige Diebeswerkzeuge und flickte damit den Griff.

Im Wartesaal lud er uns dann zum Essen ein, doch wir mussten ablehnen, da wir bereits im Zug gegessen hatten. Er begleitete uns noch zum anderen Bahnhof, kaufte dort allerlei Früchte und andere schöne Sachen und schenkte sie unserem Kind. Dann bestand er darauf, dass ich ihn zum nahen Gasthaus begleite, um mit ihm Milch zu trinken. Er wechselte einen 10 Dollar Schein. Als wir uns zum Gehen wandten, merkte ich, dass er mir seine Hand entgegenstreckte, als wollte er mir etwas geben. Nachdem ich mich jedoch umwandte, spürte ich, dass er mir etwas in die Seitentasche meines Rockes steckte. Auf meine Frage, was das denn bedeuten solle, erhielt ich die Antwort: „Es ist nur eine Kleinigkeit.“ Später fand ich, dass es der Rest von dem gewechselten Geldschein war.

Er erzählte mir, dass er schwere Zeiten erlebt hätte, seitdem er mich zum letzten Mal gesehen habe, doch nun ginge es ihm besser. Noch hatte er mir nicht gesagt, was seine jetzige Beschäftigung sei. Ich wagte daher die Frage: „Sind Sie als Einbrecher oder als Taschendieb so erfolgreich gewesen?“

„Geldschrankknacker“, entgegnete er.

Einige Jahre später besuchte er mich und verblieb eine ganze Woche in meinem Haus. Beim Abschied sagte er zu meiner Frau: „Nun habe ich einmal eine ganze Woche lang nicht gestohlen und betrogen.“

Als ich in den Jahren 1919-1920 Prediger der Gemeinde in Chicago war, besuchte uns dieser junge Mann oft. Damals befand er sich bereits 18 Jahre auf der Bahn des Verbrechens. Doch die Liebe, die ihm in meiner Familie immer wieder entgegengebracht wurde, war an ihm nicht ganz spurlos vorübergegangen. Er betrachtete meine Frau und mich als seine wahren Freunde.

Eines Tages sagte er zu uns: „So sehr ich das Zuchthaus hasse, so ist es für mich doch immer nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder einmal diesen Ort aufsuchen muss.“ So wie der Trinker immer wieder trinken muss, zwang ihn seine Leidenschaft zum Stehlen.

Doch in aller seiner Sünde und Verdorbenheit vergaß er nie die Zeit, da ihn seine Mutter das Beten gelehrt hatte. Er verachtete die Namenchristen, verneinte aber keineswegs das wahre Christentum. Er wusste, dass er ein Feind Gottes war, sagte aber, wenn er sich jemals bekehrte, dann würde er nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Wenn wir mit ihm beteten, vergoss er manche Träne, doch zu einer Übergabe kam es nie.

Dann sah ich eines Tages sein Bild in einer Zeitung und las ein Geständnis seiner verbrecherischen Taten. Mehr als 200 Einbrüche, einen Mord und andere Verbrechen hatte er begangen. Dafür war er zu einer Zuchthausstrafe von 75 Jahren verurteilt worden. Wahrlich, furchtbar ist der Weg des Missetäters.