Ein geheimnisvoller Ruf

Eines Tages erhielt ich einen geheimnisvollen Brief von einem Fremden aus den Staaten. Er teilte mir mit, dass er mich kenne, obwohl ich wohl nichts von ihm wüsste. Er hätte schon seit vielen Jahren meine Bücher und Schriften gelesen und da er jetzt in Not sei, kenne er keinen anderen Menschen, an den er sich mit Vertrauen um Rat wenden könnte.

Weiter schrieb er: „Ich muss Sie in Kürze sprechen. Doch kann ich Sie nicht aufsuchen, deshalb müssen Sie zu mir kommen. Lassen Sie mich nicht vergeblich bitten. Nur Sie allein können mir helfen. Fahren sie bitte mit dem Zug, der Samstag abend zwischen sechs und sieben Uhr hier eintrifft. Gehen Sie nach Ihrer Ankunft bitte sogleich zum Hotel C, mieten Sie sich ein Zimmer und erwarten Sie mich dann. Es mag sein, dass ich nicht vor Eintritt der Dunkelheit dort eintreffe. Ich werde Sie erkennen. Wir werden zusammen das Abendessen einnehmen und danach werde ich Ihnen in meinem Büro alles erklären.“

Beim Lesen des Briefes erinnerte ich mich an einen ähnlichen Brief, den ich vor Jahren von einem Mann erhalten hatte, der mir nach dem Leben trachtete. Nachsinnend und betend verweilte ich längere Zeit und versuchte, mich an ein früheres Zusammentreffen mit diesem Mann zu erinnern. Dann dachte ich plötzlich an einen Fremden, den ich vor mehreren Jahren während einer Lagerversammlung traf, wo tausende Menschen anwesend waren. Er verließ den Versammlungsplatz, nachdem er eine Stunde  lang zugehört hatte, und ich konnte höchstens eine Minute mit ihm sprechen. Doch der eigenartige Gesichtsausdruck hatte sich tief in mein Gedächtnis eingegraben, obwohl ich nicht wusste, dass ich diesen Mann je wiedersehen würde.

Hier war nun ein Mensch, der sich in Not befand und schnelle Hilfe brauchte, der fühlte, dass nur ich allein ihm helfen könnte. Traf dies zu, dann war sofortiges Handeln das Gebot der Stunde, um rechtzeitige Hilfe leisten zu können. War aber Böses gegen mich geplant, dann konnte es Gott beizeiten enthüllen. Mit dieser Zuversicht ging ich ins Gebet, um den Willen des Herrn in dieser seltsamen Sache zu erfahren. Klar und einfach erhielt ich auf meinen Knien die Überzeugung, dass der Mann wirklich in großer Bedrängnis war und Hilfe brauchte. Weiter erhielt ich die bestimmte Zusicherung des göttlichen Schutzes während meiner Mission.

Als ich andere um Rat in dieser Angelegenheit fragte, erhoben sich warnende Stimmen gegen meine Absicht, allein zu fahren. Doch ich sagte ihnen, dass ich noch nie menschliche Begleitung zu meinem persönlichen Schutz nötig gehabt hätte und auch jetzt wäre ja Gott mein Schutz und Schirm. Auch meine Frau hatte nach unserem gemeinsamen Gebet die feste Zuversicht, dass mein Unternehmen eine Führung Gottes sei. Ich fuhr zur verabredeten Zeit ab, und noch manche Bitte um meinen Schutz wurde während meiner Abwesenheit zum Throne unseres himmlischen Vaters gesandt.

Als ich nach meiner Ankunft in der Stadt das Hotel aufsuchte, dämmerte es bereits. Nach meiner Eintragung ins Gästebuch begab ich mich in ein Vorzimmer, um mich ein wenig auszuruhen. Ein junger Mann und eine Frau in fremdartiger Kleidung spielten dort Violine und ein Mädchen tanzte nach der Musik. Rechts von diesem Zimmer war ein Spielraum und zur Linken sah ich eine Schenke. Überall wurde gezecht, geflucht und gestritten, und nur zu bald wusste ich, an welch sündiger Stätte ich weilte. Warum hatte der Mann mich an solch einen Ort bestellt?

Die ganze Umgebung erregte Verdacht und Mißtrauen in meinem Innern und wäre ich der göttlichen Führung nicht so sicher gewesen, hätte mich ohne Zweifel eine große Unruhe erfasst. Aber um meinen Glauben zu erschüttern, hätte es mehr bedurft als dieses Schauspiel, das sich meinen Augen darbot.

Ich wartete bereits eine halbe Stunde, als ich sah, dass ein Mann das Hotel betrat. Sogleich fühlte ich, dass dies der Schreiber des Briefes war. Er schritt direkt auf mich zu und begrüßte mich freundlich. Nach kurzer Unterhaltung sagte er: „Vielleicht gehen wir in ein Gasthaus, in dem wir zu Abend essen können, und danach suchen wir mein Büro auf.“

Mit dem Verlassen des Gasthauses schien er es gar nicht eilig zu haben. Erst nachdem die völlige Dunkelheit hereingebrochen war, stand er auf. Bei unserem Gang durch die Straßen kamen wir an eine finstere Treppe, die sich zwischen zwei Gebäuden befand. Wir stiegen hinauf. Oben schloss der Mann eine Tür auf. Dann betraten wir ein dunkles Zimmer und die Tür schloss sich von selbst hinter uns. Nur das schwache Licht eines angrenzenden Gebäudes schien durch das Fenster. Noch hatte er mir keine Erklärung für die Ursache seines Tuns gegeben. Jetzt schritt er wieder durch eine Tür und ich folgte ihm in ein kleineres Zimmer. Auch hier herrschte völlige Dunkelheit. Mein Führer verschloss die Tür hinter sich und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Ich stand sechs Schritte von der Tür an einem Pult und beobachtete den Mann. Alle Furcht war von mir gewichen. Jetzt schaltete er das Licht ein, kam auf mich zu und sagte:

„Ohne Zweifel finden Sie mein Verhalten sonderbar.“

„Schon manchen Menschen sah ich, der sonderbar und unverständlich handelte.“

„Es ist so, wie ich Ihnen schrieb; ich bin in großer Not.“

„Ehe Sie mir Näheres berichten, will ich Ihnen von dem Eindruck erzählen, den ich empfing, als ich über diese Sache betete. Ich fühlte, dass mein Besuch einem Mann gilt, dem Gefängnismauern drohen.“

„Es stimmt“, sagte der Mann, „entweder das Zuchthaus, Selbstmord oder das Irrenhaus ist mein Los, wenn ich nicht auf irgendeine Weise meine Schwierigkeiten überwinde. Meinen Angehörigen oder Geschäftsfreunden kann ich mich nicht anvertrauen. Und da ich Sie schon vor Jahren kennenlernte und über Ihr Leben, Ihre Schriften und Ihre geschäftlichen Fähigkeiten wohl unterrichtet bin, fühle ich, dass Sie mir in meinen geschäftlichen Nöten sowie auch in den Nöten meiner Seele den rechten Rat geben können.“

Er erzählte mir, dass er der Sekretär und Schatzmeister einer Vereinigung sei und in den letzten Jahren 26.000 Dollar veruntreut hätte. Um seiner Familie zu Ansehen und Wohlstand zu verhelfen, hätte er das erste Geld mit dem Vorsatz entwendet, die Summe später wieder einzulegen. Zur Verdeckung seines Vergehens hätte er falsche Buchungen gemacht. Die veruntreute Summe wäre jedoch größer und größer geworden, und obgleich er alle habe täuschen können und bereits 8.000 Dollar zurückgegeben hätte, nahte jetzt das Verhängnis, da in den nächsten Tagen eine Revision stattfände, die alles aufdecken würde.

Weinend sagte der Mann, dass er alles tun wolle, um den Schaden wiedergutzumachen, doch es wären Jahre notwendig, um alles auszugleichen. Er wolle lieber ins Gefängnis gehen, als seine Seele zu verlieren, aber die Schuld würde doch dadurch nicht bezahlt. Der Arme wünschte Rat und Gebet, damit Gott ihm aus seinen Schwierigkeiten helfen und ihn in den Stand versetzen möchte, jegliche Schuld an seinen Mitmenschen zu tilgen.

In ernstem Gebet baten wir Gott um Weisheit. Manche Frage war noch notwendig, um die Lage des Mannes voll zu erfassen. Dann aber erkannte ich eine Möglichkeit, wie zu helfen war. Ich zeigte ihm den Weg, wie er es machen müsse, um im Verlauf der kommenden Jahre seine Schuld abzutragen.

Später erfuhr ich, dass er meinem Rat nur zum Teil gefolgt war und dadurch einen zweimaligen Arrest ertragen musste, doch vom Gefängnis blieb er verschont. Wäre der Mann meinem Vorschlag in allem gefolgt, hätte er alle seine Verpflichtungen ohne jeglichen Eingriff der Polizei erledigen können.