In der Stadt der Schwarzen

Eines Tages erhielt ich zwei Telegramme mit der dringenden Bitte, sogleich nach Mount Vernon, Ohio, und einem anderen Ort zu kommen, um dort für zwei Kranke zu beten, die dem Tode nahe waren. In Mount Vernon angekommen, fand ich Schwester Pealer in einem schwerkranken Zustand. Nach dem Gebet richtete der Herr die Schwester völlig auf, so dass sie das Bett verlassen konnte und ein Essen für mich bereitete. Dabei kam mir eine ähnliche Begebenheit mit der Schwiegermutter des Petrus in den Sinn (Mt. 8:14-15).

Mit dem nächsten Zug setzte ich meine Reise zu den anderen Kranken fort. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als ich am Ziel war und aussteigen musste. Es regnete heftig und außer mir verließ niemand den Zug, der scheinbar auf offener Strecke gehalten hatte. Als ich den Schaffner fragte, wo der Bahnhof sei, zeigte er, ohne ein Wort zu sagen, mit seiner Hand über die Schulter nach hinten. Ich folgte der angezeigten Richtung und erreichte bald eine kleine, offene Hütte. Vergeblich suchte ich auf dieser Haltestelle nach einem Licht; alles war tot und dunkel. Ich ging noch einige Schritte weiter, bis ich unten im Tal ein Licht gewahrte. Es war eine Straßenlaterne an einer Treppe, die zur Stadt hinunterführte.

Im Tal angelangt, erkannte ich bald einige größere Gebäude. Eins hielt ich für ein Hotel und öffnete kurz entschlossen die nicht verschlossene Haustür. Eine Stimme aus dem oberen Teil des Hauses fragte nach meinem Begehr. Gleich darauf erschien ein Schwarzer mit seiner Frau. Ich fragte: „Ist dies ein Hotel?“ Die Antwort lautete: „Nein, eine Herberge für Mädchen“. Auf meine Frage, ob im Ort ein Hotel sei, bekam ich die Antwort, dass es in der Stadt weder ein Hotel noch eine Schlafgelegenheit für mich gäbe. „Ist das eine sonderbare Stadt“, dachte ich.

Nun sprach ich mit dem Mann über den Grund meines nächtlichen Besuchs. Er sagte mir dann, dass er diese Leute in der Stadt  kenne und dass jene Kranke bereits am Nachmittag verstorben sei. Er riet mir dann, die Straße entlang zu gehen, an deren Ende ein Postbüro sei. Dort würde mir jemand den Weg weiter weisen. In jener Poststelle, die am Rande der Stadt war, fand ich mehrere Menschen, aber lauter Schwarze. Auf meine Frage übergab mich der Postmeister der Führung eines vierzehnjährigen schwarzen Jungen, der mir den Weg weisen sollte.

Es regnete in Strömen und die Schlaglöcher der ausgefahrenen Straße waren voll Wasser. Bald stand ich mit einem Fuß in einem Wasserloch, bald watete ich im Schlamm. Mein Führer erklärte mir, die Stadt hätte annähernd 1000 Bewohner. Es gäbe hier eine größere Schule für Schwarze und kein Weißer wohne in der Stadt. Der nächste Ort, in dem ich über Nacht bleiben könnte, wäre 2,5 Meilen von hier entfernt und läge jenseits der Berge. Nach mühsamer Wanderung durch Regen und Schlamm erreichten wir endlich unser Ziel bei einer schwarzen Familie. Die Tote, zu der ich nun geführt wurde, war ein Mädchen von 19 Jahren. Sie lag bereits im Sarg.

Ihre Schwester, die mich empfing, war eine Lehrerin der Schule für Schwarze. Nachdem ich meine Kleider an der offenen Feuerstelle etwas getrocknet hatte, versuchte ich, die Angehörigen zu trösten und ihnen geistliche Hilfe zu leisten, soweit es unter diesen Verhältnissen überhaupt möglich war. Als ich nahe daran war, um ein Nachtlager zu bitten, entschuldigten sich die Anwesenden und bedauerten, mich für die Nacht nicht aufnehmen zu können. Mit Laternen und Regenschirmen ausgerüstet, führten sie mich dann zurück zur Poststelle, in deren Nähe ein Baptistenprediger wohnte. Sie hofften, dass ich dort eine Schlafgelegenheit finden würde.

Im Hause des Predigers war alles nett und behaglich eingerichtet. Ich war froh, endlich unter einem sicheren Dach zu sein. Meine müden Glieder sehnten sich nach einem Bett. Der Prediger war trotz seiner 50 Jahre noch ein Schüler in der Schule der Schwarzen. Als ich eintrat, rauchte er eine Pfeife. Zunächst war er nicht gerade sehr freundlich zu mir, denn in diesem Bezirk schien zwischen Schwarzen und Weißen kein gutes Einvernehmen zu herrschen. In unserem Gespräch kam die Rede auf Jerusalem und ich sagte dann, dass ich schon dort gewesen sei. „In Jerusalem“, rief er aus, „Sie sind in Jerusalem gewesen?“ In einem Augenblick war er wie verändert, wurde sehr freundlich und hielt mich für einen bedeutenden Mann.

Als ich am nächsten Morgen mein Frühstück verzehrte, kam er zu mir und sagte: „Meine Frau hat eine religiöse Einstellung, die auf jeden Fall fanatisch ist.“

„Nun, wieso ist Ihre Frau fanatisch?“

„Sie glaubt an ein heiliges Leben“, lautete die Antwort.

„Glauben Sie an ein heiliges Leben?“

„Nein, mein Herr, so etwas kann ich nicht glauben!“

„Die Bibel sagt aber: ‚Ohne Heiligkeit wird niemand den Herrn sehen.‘ Wie stellen Sie sich zu dieser Schriftstelle?“

„Ja, ja, das stimmt, ich glaube ja auch daran, aber meine Frau ist bestimmt zu fanatisch.“

„Wieso?“

„Sie glaubt an ein Leben ohne Sünde.“

„Glauben Sie nicht an ein Leben ohne Sünde?“

„Nein, das ist doch unmöglich.“

„Die Bibel sagt: ‚Wer Sünde tut, der ist vom Teufel.‘ Sind Sie vom Teufel?“

„Ich glaube doch, dass es so etwas wie ein sündenfreies Leben gibt.“

„Vielleicht verstehen Sie nicht recht, was Sünde ist. Ein Irrtum, zum Beispiel, ist doch keine Sünde. Nehmen wir an, mein Freund sitzt am offenen Fenster und ich will durch das Fenster einen Apfel werfen. Ich verfehle aber das Ziel und treffe das Auge meines Freundes, das ihm nun tüchtig schmerzt. Diese Handlung wäre doch keine Sünde, wohl aber ein Fehler oder eine Unvorsichtigkeit. Doch gesetzt den Fall, ich hätte einen Groll gegen ihn und mein Wunsch wäre es, ihn zu verletzen, und sein Auge wäre nun das Ziel meines Wurfes. Diese Handlung wäre Sünde, da ich sie doch mit böser Absicht ausführte. Doch erlauben Sie mir noch einige Fragen: Ist es Sünde, zu morden? Wären Sie eines Mordes fähig?“

„Nein, nein, nie würde ich einen Mord begehen.“

„Es ist Sünde zu fluchen. Tun Sie das?“

„Nein, ich fluche nicht.“

„Es ist Sünde zu stehlen. Stehlen Sie?“

„O nein, Herr. Sie kommen mir schon ziemlich nahe.“ Er rannte aus dem Zimmer, kam bald lachend zurück und sagte: „Ich glaube alles, was Sie sagen.“

Ich fand in meinem Leben viele Menschen, die sich unnötig als Sünder verurteilten nur wegen mancher Fehler und Irrtümer, die sie begingen, die ihnen aber Gott nicht als Schuld anrechnete. Doch andere leben in Sünden mit einem religiösen Bekenntnis auf den Lippen. Ihr Teil wird die Hölle sein, wenn sie nicht von ihrem Scheinchristentum umkehren.