Von Nazareth nach Jerusalem

Auf einem russischen Schiff verließen wir Port Said in Ägypten und hatten die Absicht, am nächsten Morgen in Jaffa (Joppe) an Land zu gehen. Mit der Bahn wollten wir dann nach Jerusalem fahren. Auf unserem Schiff befanden sich jedoch Mitreisende aus einem oberägyptischen Seuchengebiet, die nicht ohne vorherige ärztliche Untersuchung und Desinfektion an Land gehen durften. Da aber in Jaffa kein Regierungsarzt zur Stelle war, durfte kein Fahrgast das Schiff verlassen. Die Reise ging also weiter nach Beirut in Syrien, wo das Schiff eine Meile vor der Küste vor Anker ging.

Spät nachmittags brachte ein Boot den Arzt an Bord und die Seucheverdächtigten wurden an Land gebracht. Wir mussten die unfreiwillige Verlängerung unserer Reise extra bezahlen. Die Rückfahrt nach Jaffa auf diesem Schiff lehnten wir ab, da wir jetzt in Beirut an Land gehen und mit einem anderen Schiff zum Heiligen Land fahren wollten.

Im Hotel trafen wir einen Mann, der Englisch sprechen konnte und schon in Jerusalem gewesen war. Wir fragten ihn nach einem Führer, worauf er uns seinen Freund empfahl.

Am nächsten Morgen trafen wir mit unserem künftigen Führer zusammen, der sich freundlichst bereit erklärte, uns durch das Heilige Land bis nach Jerusalem zu begleiten. Wir sahen ihn zum ersten Mal, als er draußen auf einem Stuhl saß und eine persische Pfeife rauchte. Das lange Haar reichte ihm bis auf die Schultern und sein langer, wallender Bart verlieh ihm ein eigenartiges Äußeres. Er war ein gebürtiger Preuße und beherrschte fünf Sprachen. Als wir ihn fragten, was er für die Führung fordere, fragte er: „Macht ihr diese Reise für die Sache Gottes?“

„Ja“, sagte ich, „wir befinden uns auf einer Missionsreise.“

„Gut, dann stelle ich keine Forderungen.“ Gegen Mittag verließen wir auf einem kleinen syrischen Schiff Beirut, passierten Tyrus und Sidon und fuhren an der Küste des Mittelländischen Meeres entlang bis nach Haifa, das am Fuße des Berges Karmel liegt. Dort gingen wir am nächsten Morgen an Land.

Nachdem wir dort unser Frühstück bei einer jüdischen Familie eingenommen hatten, mieteten wir einen Wagen, um nach dem einige Meilen entfernten Nazareth zu fahren. Am Berg Karmel hielten wir an, um einige der schönsten Blumen zu pflücken, die wir je gesehen hatten. Sie standen im saftigen Gras und blühten in ihren tiefen und satten Farben.

Während der Fahrt wurden wir durstig, doch vor jedem Brunnen, den wir passierten, warnte uns ein Schild, das Wasser zu trinken, da es giftig war. Wir dachten an Timotheus, den einst Paulus ermahnte, nicht nur Wasser zu trinken, sondern auch ein wenig Wein zu genießen.

Als wir in Nazareth ankamen, erweckten die Orte heiliger Erinnerung unser höchstes Interesse. Wir sahen die Hügel und Täler, wo unser Herr in seiner Kindheit wandelte. Wir sahen dieselben Felsen, die auch er einst geschaut hatte. Wir tranken aus demselben Brunnen, aus dem er vorzeiten seinen Durst löschte. Wir sahen auch die Spitze jenes Berges, von dem ihn die Juden hinabstürzen wollten, als er in der Synagoge die prophetischen Worte Jesajas las und ihre Erfüllung durch sich den Juden verkündete (Luk. 4:29).

An diesen Stätten verweilten wir mehrere Stunden, dann machten wir uns auf den Weg nach dem Galiläischen Meer und kehrten am nächsten Abend wieder nach Nazareth zurück.

Am nächsten Morgen sollte die dreitägige Reise nach Jerusalem beginnen. Unser Führer traf die notwendigen Vorbereitungen. Für Bruder und Schwester Bailey mietete er je einen Maulesel; wir sollten auf kleineren Eseln reiten. Auch zwei Mauleseltreiber mit drei Lasttieren waren für unser Gepäck erforderlich. Unser Führer hieß uns losreiten, da er noch unsere Rechnungen bezahlen wollte. Seine Absicht war, uns dann wieder einzuholen.

Nach kurzem Ritt entschlossen wir uns anzuhalten, um unseren Führer zu erwarten. Als wir lange vergeblich auf ihn gewartet hatten, kamen des Weges drei Spanier, die dasselbe Ziel wie wir hatten. Mit lebhaften Gesten und einer Flut spanischer Worte, von denen wir nur wenige Brocken verstanden, redeten sie auf uns ein. Mit viel Mühe brachten sie uns bei, dass unser Führer betrunken sei. Dann kam auch er an, kaum fähig, auf dem Esel zu sitzen. Als wir ihn nach der Ursache seines Zustandes zu solch einer Zeit fragten, entgegnete er: „Sie schenkten zu viel ein.“

„Ohne Zweifel haben Sie aber dann auch zu viel getrunken“, war unsere Entgegnung.

Wir nahmen ihn vom Esel herunter, bemächtigten uns unserer Pässe und des übriggebliebenen Geldes und entschlossen uns, ihn zurückzulassen, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. Wir wollten den Weg ohne ihn fortsetzen. Da wir jedoch vor den Gefahren dieser Gegend gewarnt wurden, konnten wir uns der Notwendigkeit, einen Führer bei uns zu haben, nicht verschließen. Doch fanden wir niemanden, dem wir uns hätten anvertrauen können. Zeit war keine zu verlieren und so entschlossen wir uns, den schwerbetrunkenen Mann auf seinen Esel zu binden, bis er wieder nüchtern war. Jedoch die beiden Mauleseltreiber protestierten laut gegen unsere Handlung. Sie sagten, wenn der Esel auf den Bergpfaden stürze und der Mann dabei ums Leben käme, müssten auch sie sterben. Wir sollten ihn doch erst jenseits der Berge festbinden.

Nun setzten wir ihn auf sein Reittier, doch allein konnte er nicht sitzen. Deshalb fasste ich ihn mit der Hand hinten am Rockkragen und hielt ihn im Gleichgewicht. Nun ging die Reise eineinhalb Stunden weiter durchs Gebirge. Die mitreisenden Schwestern meinten, ich sähe wie jener Samariter aus, der sich des Überfallenen erbarmt hatte.

Wir erreichten die andere Seite des Berges, doch unser Führer war noch so betrunken, dass er nicht Herr seiner Sinne war. Mein Samariterdienst hatte mich so ermüdet, dass ich ihn nicht mehr länger zu halten vermochte. So legte ich ihn längs auf den Rücken des Tieres, das für ihn jedoch zu kurz war. Bis ich ihn dann festband, hatte sich unsere Reisegesellschaft bereits ein gutes Stück von uns entfernt, und ich musste nun eilen, um sie einzuholen. Endlich wurde der Alte wieder nüchtern und konnte alleine weiterreisen. Scham und Reue über seine Handlungsweise packten ihn und lange Zeit ritt er am Schluss der Karawane. Ich gesellte mich zu ihm, ermutigte und spornte ihn an, als unser Führer vorne zu reiten. Niemand der Unsrigen würde ihn tadeln.

Wir ritten den ganzen Tag und fanden abends ein Nachtlager in einer jüdischen Ansiedlung. Die Nacht verbrachten wir in einem Steinhaus mit nur einem Zimmer, das ohne jegliche Einrichtung war. Unsere Lagerstätten errichteten wir auf dem Fußboden. Der Führer schlief mit uns im gleichen Raum. In jener Nacht träumten drei von uns von Mördern. Der Sinn dieser Träume blieb uns verschlossen, bis wir Jerusalem erreichten.

Am zweiten Tag unserer Reise führte uns der Weg meistens durchs Tiefland. Abends fanden wir Obdach in einem alten, verlassenen Kloster. Wir hatten die Stelle in der Nähe der Stadt Nablus erreicht, wo einst die Stadt Sichem stand. Zwischen unserem Quartier und der Stadt lag ein kleines Dorf, dessen Häuser auf beiden Seiten der Straße standen. Unser Führer und ich begaben uns dorthin, um unseren Proviant für den nächsten Tag zu erneuern. Vor kleinen Läden standen Verkäufer und priesen ihre Ware an. Kaum hatte unser Führer einige Brote erworben, als eine Anzahl Männer aus anderen Läden hinzukamen und sich um ihn versammelten. Bald stand er inmitten einer Menge von streitsüchtigen Türken, denen er gleichgesinnt zu sein schien. Zunächst hielt ich mich außerhalb der Menge, dann aber kamen noch mehr hinzu und bald stand auch ich mitten unter den zänkischen und streitsüchtigen Türken. Sie sprachen Arabisch. Unser Führer konnte ebenfalls Arabisch sprechen. Er rief mir auf Englisch zu, wir sollten von hier fliehen.

„Nein“, sagte ich, „beendigen Sie Ihre Einkäufe.“

Einmal versuchten sie, auch mit mir Händel anzufangen, doch ich verhielt mich still und teilnahmslos, und bald wandten sie wieder ihre ganze Aufmerksamkeit dem Führer zu. Plötzlich kämpfte sich dieser, mit seinen Broten stark behindert, einen Weg durch die Menge. Der Durchbruch gelang und so schnell ihn seine Füße tragen konnten, eilte er davon. Die Straße war mit Menschen gefüllt und auch ich musste hindurch, um zu meinem Quartier zu gelangen. Still bat ich Gott um Weisheit und Hilfe in meiner bedrängten Lage. Ich schaute auf die Dächer der Häuser und pfiff vor mich hin, während ich mir vorsichtig einen Weg durch die Menge bahnte. Im Übrigen stellte ich mich so teilnahmslos, wie ich konnte. Verwundert ob meiner Ruhe schaute mich die Türkenmenge an und für wenige Augenblicke herrschte Stillschweigen. Ich war bereits durch die Menge gegangen, als einige merkten, dass ich zu dem Alten gehörte, und man rief mir nach. Ich schaute zurück und lachte, dann aber schrieen einige starke Burschen und rannten hinter mir her. Als ich sie anlachte, wandten sie sich um und gingen zurück. Keiner belästigte mich weiterhin. Bei unserem Führer angekommen, fragte ich, warum er so laufe.

„Sie wären auch gerannt, wenn Sie verstanden hätten, was die da sagten. Sie drohten, uns beide zu töten.“

„Hier war mir also meine Unwissenheit einmal zum Segen“, sagte ich.

Im Verlauf des Tages sprach ich mit dem Führer über sein Seelenheil. Während der Abendandacht bat er uns, für ihn zu beten, da er doch gerettet werden möchte. Wir vereinigten uns zum Gebet. Er ergab sich dem Herrn und bekannte, Frieden mit Gott gefunden zu haben. Von diesem Augenblick an schien er ein anderer zu sein. Wenige Tage später bat er mich, ihn im Jordan zu taufen.

Am dritten Tag unserer Reise brachen wir bei Tagesanbruch auf. Schon nach kurzer Zeit kamen wir an den Berg Ebal und Garizim, wo Josua den Kindern Israel das Gesetz vorlas. Danach erreichten wir den Jakobsbrunnen.

Bald aber fing es an zu regnen und hörte nicht auf bis gegen Mittag. Einer der Mauleseltreiber wurde krank und der andere musste ihn auf dem Tier halten. Auch unser Führer klagte und konnte seinen Posten nicht mehr versehen. Ich versuchte so gut es ging, ihre Plätze auszufüllen und war somit gleichzeitig Führer und Mauleseltreiber.

Als wir die Berge erreichten, ließ der Regen nach. Doch der kalte Wind, der jetzt einsetzte, machte unsere Lage noch ungemütlicher, denn in den nassen Kleidern froren alle tüchtig. An einer Straßenbiegung fragten wir nach und erfuhren, dass wir nach weiterem einstündigem Ritt an ein einsam gelegenes Haus kämen, wo wir zu Mittag rasten könnten.

Der Maultiertreiber mit seinem kranken Kameraden war schon vorausgeritten und als wir an die Wegbiegung kamen, lag der Kranke auf der nassen Erde. Er war zu elend, um aufsitzen zu können. Der noch gesunde Treiber sowie unser Führer rieten uns dringend, eine dreiviertel Meile bis zum nächsten Eingeborenendorf am Fuße des Berges zu reiten.

Wir erfuhren, dass ein Jahr zuvor eine Gesellschaft von 40 Reisenden auch in solch ein Unwetter geraten war. Auch sie waren bis zu jenem Dorf geritten, doch fehlte es dort an Mitteln, für die Kranken zu sorgen, und 18 von ihnen starben schon am anderen Tag. Wir beschlossen, das Dorf nicht aufzusuchen, stießen aber auf den Widerstand der Eingeborenen und unseres Führers, der dann mit den beiden Treibern erklärte, nicht weitergehen zu wollen.

Langsam setzte sich der Zug, mit Br. und Schw. Bailey an der Spitze, in Bewegung, zögernd folgte auch der Führer. Doch die Treiber weigerten sich hartnäckig weiterzugehen. Mühsam half ich jetzt dem Kranken auf den Esel und setzte mich mit den beiden in Marsch. Als wir unsere Karawane erreicht hatten, ritt ich zurück, um Br. Khan zu holen, der zurückgeblieben war und vor Frost zitterte. Er weigerte sich, abzusteigen und zu gehen und sagte, dass er nicht gehen könne. Ich zog ihn von seinem Reittier herunter, gab dem Esel einen Stoß, dass er allein der Karawane zutrabte und sagte jetzt dem Bruder, dass wir tüchtig laufen müssten, um die Unsrigen einzuholen. Ich unterfasste ihn, ging zunächst einige Schritte und begann dann, mit ihm zu laufen. Der halb erstarrte Körper wurde wieder warm und neues Leben durchströmte ihn. Das gleiche machte ich mit Schw. Nichols und unserem Führer, die ebenfalls nicht mehr weiter konnten. Dann trieb ich die Tragtiere zusammen und endlich waren alle wieder vereinigt.

Auf halbem Weg zu unserem Ziel fing es an zu schneien. Es wurde kälter und ein heftiger Westwind machte unsere Lage noch kritischer. Nach einstündigem Ritt erreichten wir das einsam gelegene Haus. Es war rund gebaut, sein Durchmesser mochte 3 Meter betragen. Die einzige Öffnung war eine Tür, vor der eine Strohmatte hing, die vom Wind hin und her geweht wurde. Wir traten ein und fanden nur einen Raum ohne jegliche Möbel. Ein Mann saß auf dem Boden, auf dem ein Haufen Reisig lag. Er verstand kein Englisch.

Mühsam machten wir ihm klar, dass er ein Feuer für uns anzünden möchte und boten ihm für diesen Dienst Geld an. Innerhalb einer halben Minute brannte ein tüchtiges Feuer und der ganze Raum war in Rauch gehüllt, da er nur aus dem Eingang entweichen konnte, wo der Sturm den Schnee hereinwehte. Wir legten uns dicht auf den Fußboden und wurden nun nicht so sehr vom Rauch belästigt.

Während meine Reisegenossen sich so gut es ging einrichteten, begab ich mich zu dem kranken Treiber, der in einem bedenklichen Zustand dalag. Der andere schrie, so laut er konnte, glaubte er doch, sein Kamerad müsse sterben. Unterstützt von Br. Khan begann ich den Körper des Kranken zu reiben und sagte dabei: „Der Mann ist todkrank“. Wir flehten für ihn zu Gott und alsbald konnte er einige Worte sprechen. Dann bereiteten wir ihm ein Lager aus Decken und er schlief ein. Sein Genosse war über den plötzlichen Wechsel zum Guten sichtbar erfreut.

Sobald wir uns durch einen Imbiss gestärkt und unsere durchnässten Kleider gewechselt hatten, ging es weiter. Unseren Kranken überließen wir der Obhut des Mannes, den wir im Hause gefunden hatten. Wir händigten ihm Speise und Geld aus und baten ihn, für den Kranken zu sorgen, bis der andere Treiber am nächsten Tag zurückkäme.

Die Kälte hatte noch nicht nachgelassen, doch hörte es auf zu schneien. Wir dachten jetzt an die Einwendung der Gegner der Fußwaschung, die der Herr in Joh. 13:14-15 eingesetzt hat, indem sie erklären, dass Palästina doch ein heißes Land und das Waschen der Füße eine landesübliche Sitte sei. In diesem sogenannten „heißen Land“ war es nun so kalt, dass einige der Unsrigen beinahe erstarrt wären.

Kurz vor Sonnenuntergang, als wir noch 7 Meilen von unserem Ziel entfernt waren, genossen wir schon einen herrlichen Blick auf Jerusalem. Welche Freude erfüllte uns beim Anblick dieser Stadt, nicht so sehr wegen ihrer Schönheit, nein, aber weil es Jerusalem, der Mittelpunkt einer gewaltigen Geschichte und einer heiligen Umgebung war.

Wir ritten noch bis zur Dunkelheit, dann kehrten wir in einem Gasthaus zu kurzer Rast und Erfrischung ein. Jetzt entließen wir unseren Mauleseltreiber mit seinen Tieren und mieteten einen Wagen für den Rest des Weges. Um zehn Uhr abends erreichten wir die Stadt.