Seegräschens Bergungsort

Es brauste der Sturm in wilder Wut

Auf der dunklen, düstern See;

Es warfen die Wellen mit dumpfem Getös

Sich schäumend hinauf in die Höh.

Kein einzig Sternlein blickte herab

In die finstre, schaurige Nacht;

Es hatten die schwarzen Wolken sich

Zur eisernen Mauer gemacht.

 

Allein und hehr in der stürmischen Flut

Ein grauer Felsen stand,

Er hob sein edles Haupt empor

Zum Himmel unverwandt.

Ihn kümmerte nicht der Wogen Grimm,

Er bebte und wankte nicht,

So in des Sturmes dunkler Stund,

Wie im süßen Mondeslicht.

 

Ein klein Seegräschen fein und zart

War am Felsen geschlafen ein;

Dort hat es geruhet sanft und wohl

Im freundlichen Sonnenschein.

Nun aber im Sturm in der dunklen Nacht,

Da wurde ihm weh und bang,

Beim Toben der Wellen, beim Heulen der Flut,

Bei des Windes Trauergesang.

 

Der hohe Fels in der schäumenden See,

Er merkte Seegräschens Schmerz;

Er fühlte wie stürmisch hin und her

Ihm schlug das kleine Herz.

„Du armes Kind“, so sprach er leis,

„Was machst du für Sorgen dir?

Sei nur getrost und fürchte nichts,

Bist du ja doch bei mir!

 

O sieh, an meiner Seite dort

Ist eine enge Kluft;

Da kriech hinein, ganz tief hinein,

Dort weht dir Himmelsluft.

Und kommen die kalten Wogen auch

Und wollen losreißen dich,

So denke nur: Mein Fels ist stark,

Und klammre dich fest an mich.“

 

Wohl brauste der Sturm in wilder Wut,

Wohl donnert es in den Höhn,

Doch hörte Seegräschen des Felsen Stimm,

Sie klang wie Glockengetön.

Es kroch hinein in die tiefe Kluft,

Dort war es ihm wohl und warm;

So wohl, wie dem Kindlein, das sicher ruht

In der Mutter sanftem Arm.

 

Dort blieb es ruhig die ganze Nacht,

Ob die Wellen stürmten heran,

Ob auch manche Woge kalt und schwer

Ihm oftmals durfte nahn.

Seegräschen drückte die Äuglein zu

Und traute dem Felsen blind.

„Je schwächer ich, je stärker du“,

So sang das selige Kind.

 

Doch endlich blickte es scheu empor

Zum Himmel grau und fern;

Und sieh, durch den feuchten Nebel hindurch

Mild glänzte der Morgenstern.

Die Morgenröte hatte gesiegt

Mit der zarten, freundlichen Hand,

Und die Wellen küssten gebeugt und still

Ihres Kleides goldenen Rand.

 

Ein Lichtstrahl fiel auf des Seegräschens Brust,

Wo die Wellen herübergerollt,

Und ein jedes Tröpfchen ward Edelgestein,

Dass es glänzte wie Purpur und Gold.

Das aber wusste das Kleine nicht,

Es jauchzte nur immerfort:

„Wie soll ich loben und preisen dich,

O Fels, mein Bergungsort!

 

Was wär ich Ärmstes ohne dich,

Wo fänd ich Hilf und Ruh?

Ich müsst verderben jämmerlich:

Du bist mein Heil, nur du!

Ja, wär ich groß und schön und stark

Und müsste mich halten allein,

Wie könnt ich bestehen? Drum will ich gern

Ganz hilflos sein und klein.

 

Ganz klein und schwach in deinem Schoß,

So lass mich bleiben fest

Und sicher sein bei Tag und Nacht,

Dass du mich nicht verlässt.

Will nicht mehr mit den Schwestern ziehn

Nach Muscheln, golden und rot;

Die armen Schwestern, die liegen nun 

Am Strande welk und tot.

 

Ich aber, ich glückliches Seegräslein,

Wie ist mir so wohl, so wohl!

Oh, wüßten’s doch alle und kämen schnell,

Der Raum ist noch nicht voll.

Einst irrte auch ich verlassen umher,

Wollt flüchten, und wußt nicht wohin;

Nun weiß ich es, nun ist mir wohl,

Weil ich beim Felsen bin.“